Der Schmetterling ~ Nr.31 Sonntag, 14. April 2024 0271-7411-0102 ~ www.lfl-siegen.de |
Es spricht zum Weltenall,
Sich selbst vergessend
Und seines Urstands eingedenk,
Des Menschen wachsend Ich:
In dir, befreiend mich
Aus meiner Eigenheiten Fessel,
Ergründe ich mein echtes Wesen.
Neben der altbekannten Waldorf-Zeitschrift „Erziehungskunst“, die seit Jahrzehnten die Bewegung begleitet, gibt es seit einigen Monaten ja erWACHSEN & WERDEN, das online-Magazin; wir wiesen schon einmal darauf hin. Nunmehr ist die Zeitschrift auch als Printausgabe zu bestellen. Das Autoren-Team besteht vor allem aus ehemaligen DozentInnen von Waldorf-Ausbildungsstätten; in den Artikeln werden nach und nach Grundlagen der Waldorfpädagogik vermittelt.
Wir stellten letzte Woche die Waldorfpädagogik ~ in ihrer inneren Verbundenheit mit der Dreigliederung des sozialen Organismus ~ als ein „dringend benötigtes Ferment für eine positivere Zukunft“ hin und berührten ihr friedensstiftendes Potential. (Zugleich übrigens staunten wir, dass der Newsletter unserer ehemaligen Wirkensstätte neuerdings eine Friedenstaube im Logo hat, noch vor dem Jahrestag der unfriedlichsten Aktion.) Aus dem Leserkreis kam nun die Frage, ob nicht vor dem Hintergrund der jetzt beginnenden oder zumindest geforderten öffentlichen „Aufarbeitung“ der Corona-Themen auch bei uns eine Art versöhnlicher Gesprächsansatz versucht werden könnte. Platt gesagt: jederzeit gerne. Nur: Corona war gar nicht das Thema. Das können wir dokumentieren, doch ist hier selbstverständlich nicht der richtige Ort dafür.
Nur soviel: „Andere Zeiten, andere Sitten“, sagt man. Heute spricht man vom „Overton-Fenster“, das sich immer mal verschieben kann. Innerhalb dieses Fensters liegt dasjenige, was man in einer bestimmten Gegenwart sagen darf, ohne als unanständig usw. zu gelten. In der Mitte ist das, was besonders gern gehört und propagiert wird, außerhalb des Fensters ist der verbotene Bereich, die untragbaren Meinungen, die Tabus. Wenn man ein aufgeklärter und friedvoller Mensch sein will, weiß man natürlich, dass eine Mindest-Fenstergröße für eine demokratische Gesellschaft vorteilhaft ist, und dass man ohnehin das Fenster in seiner jeweiligen Gegenwart nicht verabsolutieren sollte, weil es sich durchaus mal verschieben kann und ~ soviel kann man ja aus der Geschichte lernen ~ sich oft genug verschoben hat. Natürlich ist die Verschiebung kein Naturgeschehen, sondern es wird auch fleißig von „politischen Akteuren“ hin- und hergedrückt.
In Bezug auf Corona verschiebt sich also das Fenster jetzt ein wenig, bzw. weitet sich. Nützt uns das etwas? Kaum, denn wie gesagt: das war gar nicht das Thema.
Was wir mit „Ferment“ und Friedens-Potential meinten, und was ganz deutlich an unserer ehemaligen Wirkensstätte präsent war, hängt nicht davon ab, was „die Mode streng geteilt“ hat (Schiller) oder im nächsten Moment zur Vereinigung freigibt. Haben wir denn überhaupt die „Meinungen“ unserer Mitmenschen zu beurteilen, zu „bewerten“? Besser nicht! „Irgendwo in seinem Innern hat der Mensch immer noch so ein kleines Kästchen, wo er die Sachen bewertet. Diese Bewertung muss aufhören!“, sagte Steiner einmal. Was man sich als Fenster und als Fläche ausgebreiteter möglicher „Meinungen“ vorstellt, ist ohnehin höchst fragwürdig und taugt vielleicht für „Politik“. Aber es stehen doch hinter jeder „Meinung“ oder „Einstellung“ konkrete Menschen mit ihren Schicksalen und unerfassbaren Tiefen. Wenn man anfängt, die einzelnen „Meinungen“ etwa nach ihrer „Nähe“ oder „Ähnlichkeit“ zu anderen zu sortieren und zu „beurteilen“, entfernt man sich immer weiter, bis zur Unkenntlichkeit, von den individuellen Menschen. Ein gewichtiges Opfer dieser Methode ist übrigens die Anthroposophie selber. Es ist das Lebensthema des Professors Helmut Zander, die Anthroposophie haarklein zu analysieren unter dem Gesichtspunkt, wo bereits vor Steiner oder neben ihm etwas ähnliches zu lesen oder zu hören war („Kontextualisierung“). Da kann man sagenhaft viel lernen, wie Anthroposophie „einzuordnen“ ist, oder auch: woherSteiner dies oder jenes abgeschrieben haben könnte. Und man versteht am Ende rein gar nichts mehr, so dass da eine „Anthroposophieforschung ohne Anthroposophie“ herauskommt: der „Gegenstand“, den man „untersuchen“ wollte, ist einfach weg. Kein Wunder, wenn man ihn gar nicht verstehen will, d.h.: sich nicht in ihn hineindenken will.
Genau dies aber, das Hineindenken, die „verständnisvolle Liebe“, ist der Weg der Anthroposophie. Das Ausschalten des „Kästchens“ ermöglicht erst das wirkliche Leben und Umgehen mit dem, was heute „Diversität“ genannt wird: mit verschiedenstem menschlichen Sosein und verschiedensten menschlichen Selbstentwürfen, also auch „Meinungen“. Wie denn auch sonst? Glaubt jemand, Menschen darauf programmieren, abrichten zu können?
„Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnis des fremden Wollens“, dies Motto von Steiner hing an der Wand unseres Lehrerzimmers. Und wir können im Rückblick sagen: dies lebte im Kollegium, und die daraus resultierende Solidarität bewährte sich auch in der Corona-Zeit. Aber es gibt wohl Menschen, die so etwas nicht mit ansehen können …