Freitag, 3. Mai 2024
Lassen wir den Unterschied zwischen Polyacryl-Fasern und Schafswolle zunächst beiseite, denn die Kleidung fällt in den Privatbereich. Wenn wir dann mal bauen, können wir uns gern über biologische, nachhaltige Baumaterialien verständigen. Aber warum bevorzugen wir (schon bei unserer Immobiliensuche) „Natur“ für unsere Kinder?
Schon unsere Stammschule lag direkt am Wald, und die meisten der Schulklassen „benutzten“ diesen täglich: die größeren SchülerInnen eher zu den kleinen Erholungsspaziergängen (z.B. morgens zum Ankommen, nach der oft längeren Taxifahrt), die Kleinen nachmittags (denn schon die Kleinen sind ja lange in der Schule) zum freien Spielen. Als Kind im Wald, an frischer Luft zu spielen, mit Zeit, mit Freunden und ohne Angst, sich dreckig zu machen ~ was gibt es schöneres! Aber nicht nur „schön“, sondern auch gesund! Denn wir müssen keine Mediziner sein, um zu wissen, dass solche Erfahrungsmöglichkeiten wichtige Entwicklungsvoraussetzungen für aufwachsende Kinder sind. Man denke nur an die sensomotorische Entwicklung durch die vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten und -anreize. Und zugleich wissen wir, dass viele Kinder zu Hause zu wenig draußen sind: vielleicht haben die Eltern keine Zeit, es sind keine älteren Geschwister oder Freunde da, es ist keine „Natur“ in der Nähe ~ und so übernehmen „die Medien“ die Pseudo-Betreuung. Hier sehen wir als Schule uns in der Verpflichtung, gerade auf die Kleineren bezogen, eine Lücke zu füllen.
Warum Steine, Matsch und Holzstückchen am Bach? Aus Lego kann man doch viel leichter ein Haus bauen! ~ Das ist es ja gerade! Rudolf Steiner nahm in seinem Aufsatz „Die Erziehung des Kindes“ (1907) eine Puppe als Beispiel: mache ich schnell aus einer „alten Serviette“ eine Puppe, so ist diese viel wertvoller als die gekaufte „schöne“ Puppe: denn die Phantasie-Arbeit, die das Kind zu leisten hat, damit „das Ding erst als Mensch erscheint“, „wirkt bildend auf die Formen des Gehirns“ ~ so wie unsere Muskeln durch Betätigung kräftig werden.
Und was gibt es nicht alles im Wald und am Bach zu entdecken! Wir sind umgeben von belebten, beseelten Wesen. Ist die Natur „göttlich“? Der Anthroposoph Karl Ballmer schrieb: „Die Welt setzt mich an meinen Wahrnehmungen jede Sekunde ins Dasein. ‘Schöpfer’ und ‘Schöpfung’ ist kein bloß mythologisches Thema.“ ~ „Gott päppelt mich mit Sinnesempfindungen groß“ ~ also auch den Erwachsenen! Denn den Dingen der Natur sei es „leichter gemacht, unmittelbar göttlich zu sein als mir mit dem Wust meines Innenlebens“. Das ganze Spektrum von zwölf Sinnesorganen, von denen Rudolf Steiner spricht (das stellen wir auch noch mal dar), kommt in Aktivität, wenn wir im Wald sind. Mag sein, dass bei uns Erwachsenen auch beim Spazierengehen das Grübeln über unser „Innenleben“ nicht abzuschalten ist, aber auf tieferer Ebene geht anderes vor sich, was mit dem Begriff „Erholung“ nur sehr oberflächlich gekennzeichnet ist. Im Schulleben mit den Kindern wollen wir uns jedenfalls klar sein: das Draußensein in der Natur mit der Hingabe an Wahrnehmung und Beobachtung ist genau der Gegenpol zum konzentrierten, reflektierenden Unterricht im Klassenzimmer, und im anzustrebenden harmonischen Pendelschlag zwischen beidem steigert sich beides im Wert für die Kinder!
Nun ist aber „die Schöpfung“ bekanntermaßen bedroht, und zwar so akut, dass Kinder und Jugendliche sich als Angehörige einer „letzten Generation“ empfinden könnten. Am schlimmsten bringt der sarkastische Witz vom Planeten Erde das zum Ausdruck, der unter einem Ausschlag namens „homo sapiens“ leidet: diese Krankheit geht schnell vorbei, tröstet ihn ein andrer Planet … Aber ist die Erde ohne Menschen vorstellbar? Wollen wir unsern Kindern zumuten, sich als Ausschlag der Erde zu fühlen?
Nein!, sagt die Waldorfpädagogik. Erde und Mensch sind zusammen entstanden und gehen zusammen in die Zukunft. Die Schöpfung geht weiter und fängt jetzt und hier mit meinem Wahrnehmen an.
Diese Zusammengehörigkeit erleben zu dürfen und erleben zu lernen, ist heute auch eine Aufgabe von Schule. In der heute sogar von den Vereinten Nationen (Agenda 2030) geforderten Bildung für Nachhaltige Entwicklung geht es darum, das Wissen um ökologische Zusammenhänge in der Schule erlebbar zu machen. Waldorfpädagogik ist da eine Vorreiterin: nicht nur dass die Ackerbau-Epoche in der 3. Klasse und der Gartenbau-Unterricht ab der 5. Klasse seit jeher zum Lehrplan gehören. Auch im Naturkunde-Unterricht wird, schon bevor die Kinder kausale, chemisch-biologische Zusammenhänge verstehen können, das Gefühl dafür angelegt: Sowohl die Tierkunde wie auch die Pflanzenkunde wird ganz speziell so unterrichtet, dass die Kinder erleben können: jedes Wesen dieser Welt spiegelt sich in uns selber, hat etwas mit uns zu tun!
Und wie viele praktische Lernmöglichkeiten ergeben sich aus dieser Orientierung: der in der Bienenhaltung erwirtschaftete Honig wird im Schülerladen verkauft, wie die von den Hühnern geschenkten Eier oder die in der Weberei entstandenen Schafswoll-Teppiche. Natürlich alles in kleinem Format ~ aber anfassbares „Lernen fürs Leben“.
Sie merken: Wir brauchen ein Schulgelände, das durch die vorhandene „Natur“ vielfältige Möglichkeiten bereitstellt: neben dem Gartenbaugelände ein Baumbestand für die Nistkästen; Platz für ein Feuchtbiotop mit seiner Vielfalt an Pflanzen und Tieren; eventuell die Möglichkeit zu Kleintierhaltung … etc. etc.
Wenn wir wollen, dass die Erwachsenen von morgen die bedrohte Natur kennen und lieben werden, müssen wir den jetzigen Kindern ermöglichen, dies zu lernen.