Sonntag, 25. August 2024
Diesen Vortrag vom 25. August (!) 1919 kann man nur zur eigenen Lektüre empfehlen. Versuchen wir das Wesentliche herauszustellen.
„Von durchschlagender Bedeutung“, so machte Steiner den ersten Waldorf-Lehrern klar, sei es, dass den Schulanfänger-Kindern sogleich in der allerersten Schulstunde in einem Gespräch der Sinn des in die Schule Kommens klar gemacht werde. Ungefähr: Ihr kennt doch die großen Leute, die können Sachen, die ihr nicht könnt; das sollt ihr auch lernen.
Das hört sich zunächst ganz hausbacken an. Dennoch, die Kinder werden dort abgeholt, wo sie ihrem Alter gemäß (im „zweiten Jahrsiebt“, wie kommen darauf zurück) angekommen sind: beim Aufschauen zu „den Großen“.
Die Orientierung auf das wirkliche Leben der „Großen“ soll von Anfang an das Schulleben durchziehen. Deswegen keine Extra-Sachen, die es nur in der Schule gibt, wie „Häuschen legen aus abgebrannten Zündhölzchen“ usw. Das Spielen gehört andererseits natürlich dennoch unbedingt auch zur Schule, aber nicht als künstliches Vehikel.
Wenn man die Kinder dies intensiv erleben lässt, kann man sicher sein, dass die Kinder am nächsten Tag von zu Hause berichten, wo sie überall die „gerade Linie“ und die „krumme Linie“ wiederentdeckt haben, im Zimmer, in der Natur, an Mensch und Tier.
Sicherlich nicht zufällig wählte Steiner als Beispiel die senkrechte „gerade Linie“. Es dauert nicht lang, bis die Kinder darauf kommen, dass wir selber ja in dieser Senkrechten auf der Erde gehen und stehen können, und der Pudel zuhause das nur ausnahmsweise kann; dass wir allerdings in der Nacht auch gerade in der Waagerechten liegen.
Es sind also Ur-Elemente unserer irdischen Welt, für die wir, durch wiederholentliches Üben mit Kreide, Wachsblöckchen, ja wie gesagt mit dem ganzen Körper oder sogar allen unseren Körpern zusammen, aufwachen können.
Das wird nie langweilig, weil es künstlerisch gemacht wird, und „das Künstlerische genießt man immer wieder, nicht nur das erste Mal.“ Zugleich ist der Anspruch da, „dass jedes Kind es gleich von Anfang an in einer gewissen Vollkommenheit macht“ ~ und das heißt, besonders bei uns: Hilfe ist angesagt, vielleicht auch der Kinder untereinander. Zugleich mit der Wahrnehmung des Schönen wird der soziale Sinn geübt. Und kein Kind wird sagen „das kann ich doch sowieso“. Und schon gar nicht geht es darum, einfach nur zu „wissen“, was eine gerade und eine krumme Linie „ist“.
Diese Übungen (die dann vielfältig variiert werden, denn aus der geraden und der krummen Linien kann man ja alle Formen der großen weiten Welt finden) dienen nicht etwa primär dazu, das Lesen und Schreiben anzulegen. Das kommt später. Aber natürlich: auch dafür sind sie Grundlage, denn alle Buchstaben sind ja auch daraus gebaut. Aber der Sinn ist viel umfassender: die Augen zu öffnen (und man könnte sagen: die Hände zu öffnen) für unsere liebe Welt.
Der Sinn von Schule ist, so heißt es im Vortrag, „bewusst ins Bewusstsein heraufzubringen, was gewohnheitsmäßig im Leben vor sich geht“. Denn gesehen und auch getan hatten wir die „gerade Linie“ und die „krumme Linie“ ja schon längst. Aber eigentlich ist es selbstverständlich: es bedarf eines „Erwachsenen“ in der „Schulstube“, der uns im Gespräch darauf bringt, uns anleitet und mit uns übt, damit wir diese beiden ersten Formen in unsere Kompetenz bekommen.
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Diese Wertschätzung der unmittelbaren Begegnung von Mensch zu Mensch, Groß und Klein, wird bei uns bis in die Oberstufe hin bleiben, und wir sehen sie auch in der Zukunft nicht veralten, im Gegenteil. Schon vor hundert Jahren sagte Steiner, dass durch Buchdruck einschließlich Illustrationskunst vieles aus dem Unterricht „abgestoßen“ werden könnte: mit den Büchern brauche der Lehrer ja nicht konkurrieren. „Aber wir haben gerade dadurch, dass wir das abgestoßen haben, die Möglichkeit bekommen, ganz neue Lehrfähigkeiten zu entwickeln, die heute noch in der Menschheit schlafen.“ (Hier die Quelle.) Das brauchen wir heute nur eins zu eins zu übertragen auf die Möglichkeiten der Internetrecherche, wo es um die Kompetenz des richtigen „Promptens“ (für die KI) geht. Was die „Schulstube“, und nur sie mit ihrer Menschenbegegnung, leisten kann, konzentriert sich weiter aufs Wesentliche.